10.02.2010 / Wunsdorf: Neonaziattacke in Wunstorf -„Ich dachte erst, dass sie tot ist“

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Am Amtsgericht Neustadt wurde gestern unter starken Sicherheitsvorkehrungen eine Verhandlung fortgeführt, bei dem zwei Mitglieder der niedersächsischen Neonazi-Szene wegen gefährlicher Körperverletzung angeklagt sind. Sie sollen als Teil einer Gruppe vermummter Neonazis am 15.03.2009 im Bereich des Wunstorfer Bahnhofes zwei junge Erwachsene angegriffen und dabei eine junge Frau schwer verletzt haben.


Brutale Tat


Der Vorwurf wiegt schwer: Eine Gruppe von ca. 35 Personen, die nach Aussagen von Polizei und Zeugen dem neonazistischen Spektrum zuzuordnen sind, sollen teils vermummt und bewaffnet zunächst versucht haben, das Jugendzentrum „Wohnwelt Wunstorf“ zu attackieren und danach die beiden jungen Erwachsenen vor dem Zugang zum Wunstorfer Bahnhof angegriffen haben. Die angegriffene junge Frau trug zu der Zeit einen Gips und wurde nach Zeugenschilderungen sogar dann noch getreten, als sie bereits auf der Erde lag, wodurch sie massive Verletzungen davontrug und in die Bewusstlosigkeit fiel. Das ärztliche Attest spricht für sich: Prellungen am ganzen Körper, Verletzungen im Gesicht und durch schwere Tritte verursacht eine anhaltende Herzrhythmusstörung, wegen der die junge Frau bis heute Medikamente nehmen muss.

Der zweite Geschädigte kam etwas glimpflicher davon. Er erlitt aber ebenfalls Prellungen und Kopfverletzungen als er der jungen Frau zu Hilfe eilte. Dramatisch auch die Schilderung einer weiteren Zeugin, die die Tat aus der „Wohnwelt Wunstorf“ mit ansehen musste und nach Flucht der Neonazis vor der Polizei sofort zum Tatort und der schwer verletzten Bewusstlosen eilte: „Ich dachte erst, dass sie tot ist – alles war voller Blut“. Sie berichtete von einer Gruppe dunkel gekleideter Täter, die sich damit abwechselten, auf die am Boden liegende Frau einzutreten.

Angeklagte einschlägig bekannt


Wegen mutmaßlicher Tatbeteiligung wurden die beiden Neonazis Marco Siedbürger sowie ein Heranwachsender aus Wunstorf wegen gefährlicher Körperverletzung angeklagt. Die beiden sollen nach den Aussagen der Opfer unter den Angreifern erkannt worden sein und sich bei dem Überfall besonders aggressiv und an führender Stelle hervor getan haben. Der Beschuldigte Marco S. soll von allen Tätern am längsten auf die wehrlose Frau eingetreten haben, dieses mit den Worten: „Ich mach dich fertig, ich bring dich um!“ In Handschellen wurde der mehrfach vorbestrafte Marco S. direkt aus dem Gefängnis in den Saal geführt. Er gilt als aggressiv, als brutaler Schläger und einschlägig vorbestraft: Marco S. verbüßt aktuell eine 14-monatige Haftstrafe wegen eines Angriff auf ein linksalternatives Jugendzentrum im nordrhein-westfälischen Detmold, bei dem er eine Person verletzte. Bereits zuvor saß der bekannte Gewalttäter im Gefängnis: Im niedersächsischen Eschede traten Marco S. und seine Kameraden einen Mann so brutal zusammen, dass dieser an seien Verletzungen starb.

Ebenso ist der zweite Beschuldigte kein gänzlich Unbekannter: Auch dieser verbüßte wegen eines Gewaltdelikts bereits einen Jugendarrest. Prozess-Besucher berichten, dass gegen den Heranwachsenden aufgrund weiterer Gewalttat bereits ermittelt werde. Beide Beschuldigten sind Aktivisten der neonazistischen Kameradschaftsszene in Norddeutschland und von zahlreichen Aufmärschen und Neonazi-Treffen bekannt.

Wohnwelt als Ziel der Neonazis


Die beiden Beschuldigten sollen nach Schilderungen von Zeugen mit zahlreichen, teils vermummten und bewaffneten Gesinnungskameraden das „Jugendzentrum Wohnwelt“ am Wunstorfer Bahnhof anvisiert haben und dabei auf die späteren Opfer getroffen sein. Dabei grölte die Gruppe von etwa 30 bis 40 Personen neonazistischen Parole und skandierten Sieg-Heil-Rufe. Die beiden Angegriffenen befanden sich nach ihrer Schilderung zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg vom Bahnhof zum gegenüberliegenden Jugendzentrum und wurden dabei von den angreifenden Neonazis erkannt. Die Neonazis machten kehrt – attackierten die beiden.

Drei bereits anwesende Polizisten, die versuchten, einen zuvor bereits befürchteten Angriff auf das Jugendzentrum zu verhindern und sich den ca. 35 Neonazis in den Weg stellten, bekamen in der unübersichtlichen Situation von dem Angriff auf die beiden Personen zunächst nichts mit. Erst durch die Rufe von Zeugen aus dem ersten Stock des Jugendzentrums wurden die Polizeibeamten auf den brutalen Übergriff aufmerksam. Diesen Zeugen und dem Eingreifen der Polizisten ist es wohl zu verdanken, dass die Angreifer schließlich die Flucht antraten und noch schlimmeres verhindert werden konnte.

Ausgangspunkt Neonazi-Party?


Nur durch Zufall war die Polizei bereits vor Ort: Sie wurde nach Aussage eines Beamten im nun stattgefundenen Gerichtsprozess auf die Anwesenheit zahlreichen Neonazis in Wunstorf aufmerksam, weil sie wegen einer Ruhestörung angerufen wurden. Ein Nachbar des nahe gelegenen „Bauhofs“ beschwerte sich über laute Musik, u.a. soll dort auch Rechtsrock gespielt worden sein. Als die Polizeibeamten den Sachverhalt prüften, erkannten sie auf der dort stattfindenden Geburtstagsparty zahlreiche Personen, welche sie der gewaltbereiten neonazistischen Szene zuordnen konnten. Unter den einschlägigen Partygästen befand sich auch der Angeklagten Marco S., der durch seine auffälligen Tattoos wiedererkannt wurde. Dadurch sensibilisiert entdeckten die Einsatzkräfte der Polizei auf einer späteren Streifenfahrt die beschriebene größere Gruppe der Neonazis. Diese bewegte sich nach Schilderung des Polizisten geschlossen, teils mit Knüppeln bewaffnet, in Richtung des Jugendzentrums in Wunstorf. Weitere Zeugen wollen unter den bewaffneten Personen auch den zweiten Angeklagten mit einem Teleskopschläger in der Hand eindeutig erkannt haben.

Andere Zeugen, die eindeutig der organisierten Neonazi-Szene zuzuordnen sind, versuchten den Tatvorwurf, im Verlauf des Gerichtsprozesses in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Mitglieder der regionalen Kameradschaftsstrukturen „Freie Kräfte Hannover Umland“ und „Freie Nationalisten Hannover“ berichten entgegen der Aussagen von Polizei, der Geschädigten und weiteren Zeugen, dass sie zuvor angegriffen worden seien. Man habe sich lediglich von der „eigenen Party“ in Richtung Jugendzentrum begeben, weil man weitere Kameraden vom Bahnhof zur Feier im Bauhof abholen wollte. Ein aus Hannover stammende Neonazi, der offen zu gab, bei der Situation mit vor Ort gewesen zu sein, berichtete von einem gegenseitigen Wortgefecht. Der langjährige Neonazi gab sogar zu Protokoll, dass man mit „Linken eigentlich ein Match“ austragen wollte. Man habe aber davon abgesehen, weil die potentiellen Gegner_innen „auf einmal in einer massiven Übermacht aufgetaucht seien“.

Die schweren Verletzungen der jungen Frau erklärte er dem Gericht mit der gewagten These, dass sie von seinen vor der Polizei flüchtenden Neonazis „übergetrampelt“ worden sei. Diese Aussagen führten dazu, dass der Staatsanwalt umgehend ein weiteres Verfahren wegen des Verdachts auf Tatbeteiligung gegen D. ankündigte. Ein weiterer geladener Zeuge, der Neonazi K. erschien erst gar nicht zum Prozess, so dass er am nächsten Verhandlungstag am Dienstag, dem 23.02. mit einer polizeilichen Vorführung rechnen muss.