15.11.2008 / Esens: Missglückte Revanche
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Es sollte die große Revanche werden zu der von den Behörden und der Stadt Esens vereitelten Kranzniederlegung von Neonazis zum 65. Jahrestag des alliierten Bombenabwurfes über Esens am 27.10.2008. Unter dem Motto »Unsere Kriegstoten sind unvergessen« wurde die Kundgebung vom DVU-Landesverband Niedersachsen und der neonazistischen Kameradschaft Aktionsgruppe-Wiking (AG-Wiking)in ganz Norddeutschland beworben. Letztlich fanden sich lediglich 32 Teilnehmer_innen in der Bärenstadt ein um die Geschichte auf ihre Weise umzudeuten.
Esens, vier Kilometer vor der Nordseeküste, ist eigentlich eine ruhige 7000 Einwohner_innen umfassende Stadt in Ostfriesland. Lediglich einmal im Jahr gerät sie in den Focus öffentlichen Interesses, wenn es gilt der Toten eines Bombenabwurfes am 27.September 1943 zu gedenken. An diesem wolkenverhangenen Tag über Ostfriesland kamen durch alliierte Bombenabwürfe in Esens 165 Menschen zu Tode. Durch einen technischen Fehler der vorausfliegenden Flugzeuge, die das eigentliche Ziel Emden mit Rauchbomben für den Hauptverband kenntlich machen sollten verlor ein Teil des amerikanischen Flugverbandes die Orientierung und setze zum Rückflug zur Luftwaffenbasis an. In Kriegszeiten war es üblich, nach erfolglosen Angriffen sogenannte Gelegenheitsziele zu bombardieren.
Auf diesem Rückflug, der über das Harlinger Land führte, tat sich den Besatzungen eine Wolkenlücke auf, unter der sich die Stadt Esens befand. Dort wurden schließlich die Bomben abgeworfen, die eigentlich für Emden bestimmt waren, was zu den Verlusten unter der Zivilbevölkerung führte.
Bereits um 12 Uhr trafen die ersten 14 Teilnehmer_innen am kleinen Bahnhof Esens ein und wurden unter polizeilicher Begleitung die letzten eineinhalb Kilometer zum Kundgebungsplatz am Markt geführt. Mit dabei waren hauptsächlich ortsnahe Neonazis aus Wilhelmshaven und Ostfriesland, wie der einschlägig vorbestrafte Neonazikader der AG-Wiking Manuel Wojtczak, Wilhelmshaven und Uwe Veith aus Esens, sowie die NPD Funktionäre Nicolas Ahlrichs, Wittmund, und Jens Wagenlöhner aus Wilhelmshaven.
Seit mehreren Jahren benutzen Neonazis aus dem ostfriesischem Raum, allen voran die AG-Wiking um deren Funktionär Manuel Wojtczak den Gedenktag der Stadt Esens am 27. Oktober für sich zu vereinnahmen. Auch örtliche DVU Vertreter_innen, NPD Anhänger_innen und Funktionäre sind seit Jahren dabei, wenn es gilt Geschichte umzudeuten. So ist die Rede von gezielten Terrorangriffen der Alliierten und Opfertum des deutschen Volkes, das einem sinnlosen Terror der Alliierten machtlos ausgesetzt gewesen sei. Grundsätzlich verschwiegen wird dabei geflissentlich die Rolle des Dritten Reiches, das Auslöser des Weltkrieges zwischen 1939 und 1945 war und das den Tod von 60 Millionen Menschen zu verantworten hatte. Wie nicht anders zu erwarten, wurde die deutsche Kriegsschuld auch diesem Tag mit keinem Wort erwähnt.
Am abgesperrten Kundgebungsplatz am Markt unmittelbar vor dem Esenser Rathauses wurden sie von mehreren Hundert Antifaschist_innen empfangen, die während der nächsten Stunden den Auftritt der Neonazis mit Pfeifkonzerten und »Nazis raus« Rufen begleiteten.
Es sollte noch etwa eine Stunde dauern, bis der klägliche Rest der sonnabendlichen Versammlung eintraf. In der Zwischenzeit standen 14 Neonazis ziemlich verloren auf dem großen Areal und versuchten sich im Posieren für die anwesenden Pressefotograf_innen und Antifaschist_innen. Noch vor Beginn der offiziellen Kundgebung musste ein Transparent der AG-Wiking , auf dem sie ihren den Traum im Reich von Morgen wahr werden ließen, wegen Auflagenverstoßes wieder eingerollt werden.
Gegen 13 Uhr trafen weitere 18 Teilnehmer_innen mehrheitlich mit PKW am Kundgebungsplatz ein.Unter ihnen der Anmelder der Kundgebung und Versammlungsleiter Hans-Gerd Wiechmann. Der 59-jährige ist derzeit Landesorganisationsbeauftragter der DVU in Niedersachsen. Das jedoch erst seit kurzer Zeit. Wiechmanns Parteikarrieren sind ebenso kurz wie vielfältig. Ehemals NPD-Mitglied und Republikaner, deren Landesvorsitzender er bis 2005 war, gründete er auf Grund von Auseinandersetzungen mit dem Bundesvorsitzenden Rolf Schlierer, das „Sozialpatriotische Bündnis Lüneburg/Neuer Morgen“. Bei der Bundestagswahl 2005 trat Wiechmann für die NPD im Wahlkreis 36 Soltau-Fallingbostel – Winsen/Luhe an. Nach Zerwürfnissen mit dem Lüneburger NPD-Kader Manfred Börm und der örtlichen NPD verließ Wiechmann die Nationaldemokratische Partei. Bei der Kommunalwahl 2006 versuchte sich Wiechmann in Lüneburg für die »Unabhängige Wählerliste UWL Bündnis/Rechte« wählen zu lassen. Nun versucht sich Wiechmann seit einiger Zeit in der DVU. Zudem gerät Wiechmann immer wieder in den Verdacht, Verbindungen zum Verfassungsschutz zu haben.
Ebenfalls angereist waren Matthias Faust, Hamburg, seines Zeichens »Bundesorganisationsleiter der DVU« und Christian Worch, Neonazikader aus Hamburg und persönlicher Dutzfreund von Faust. Angeführt von Sandra Harbich, fanden sich auch Mitglieder einer jüngst im niedersächsischem Soltau gegründeten DVU Gruppe in Ostfriesland ein. Der DVU Ableger aus Soltau rekrutierte seine Mitglieder dabei aus dem Umfeld der unlängst aufgelösten »Autonomen Nationalisten Soltau« (ANS) um Marleen Poppke, der Schwester von Lars Poppke, der das Projekt ANS gemeinsam mit Söhnke Dorten im Frühjahr 2008 grandios vor die Wand gefahren hatte.
Unterstützt wurde die Organisationsleitung der Versammlung von Christian Worch, welcher das Lautsprecherfahrzeug der Kundgebung stellte. Nach internen Unstimmigkeiten der Organisationsstruktur des »Freundeskreis Halbe«, welcher in den vergangenen Jahren thematisch ähnlich gelagerte Aufmärsche im brandenburgischen Halbe durchführte, zog es Christian Worch in diesem Jahr in die norddeutsche Tiefebene. Es bleibt Worchs persönliches Geheimnis, warum er sich in den letzten Jahren den eher familiären Demonstrationen und Kundgebungen zuwendet, die durchweg mit nur zweistelligen Teilnehmerzahlen durchgeführt wurden. So zuletzt in Oldenburg mit 56, in Weyhe mit 41, Leipzig mit 37 oder Salzgitter mit ganzen 17 Teilnehmer_innen.
Nachdem Worch die Lautsprecheranlage auf seinem Kleinwagen angebracht hatte und der Generator zur Stromversorgung endlich reibungslos lief, kündigte Hans-Gerd Wiechmann nach dem Verlesen der mehrseitigen Auflagen den ersten Redner des Tages, den örtlichen DVU Funktionär Karl Heinz Besemann vom »DVU-Kreisverband Ostfriesland« an. Dessen stockende, zum Teil mit langen Aussetzern und ungewollten Nachdenkpausen versehene Rede vermochte die Massen derweil noch nicht so richtig in Schwung bringen.
Auch Matthias Faust, der als nächster Redner auftrat, ist wie Wiechmann ein Wanderer zwischen den Parteiwelten. Vor gut zwei Jahren noch Landesbeauftragter der Republikaner »REP« in Hamburg gab er ein kurzes Intermezzo im Jahre 2007 bei der hanseatischen NPD, das jedoch mit dem Rauswurf von Anja Zysk, der ehemaligen Vorsitzenden der NPD-Hamburg, endete. So war Matthias Faust Anmelder einer Demonstration der NPD am 10.2.2007 in Hamburg-Bergedorf gegen einen geplanten Moscheebau, die jedoch von weiten Teilen der Neonaziszene boykottiert wurde. Während Faust, Wiechmann und Worch in der Weltstadt Hamburg eine Kundgebung mit gerade einmal 48 Teilnehmern abhielten, fand zeitgleich eine weit mehr als doppelt so starke Demonstration im Kreisstädtchen Rotenburg/Wümme statt. Doch die Bande der drei Funktionäre brachen dadurch nicht etwa auseinander, sondern verstärkten sich eher noch. Am 6.10.2007 waren Faust, Wiechmann und Worch abermals auf einer Kundgebung, diesmal in Salzgitter angekündigt, Faust trat als Redner für das Sozialpatriotische Bündnis auf, dem auch Hans-Gerd Wiechmann angehörte. Die Kundgebung geriet aber mit gerade einmal 20 Teilnehmern zum Fiasko für die Verantwortlichen. Kurz danach wurde Faust vom hamburgischen Landesverband der DVU als Pressesprecher angeworben, zu deren Landesvorsitzenden er letztlich gewählt wurde. Im Februar 2008 trat Matthias Faust, dem die hanseatische Verfassungsschutzbehörde unlängst den zweifelhaften Titel Worch-Adlatus verpasste, für die DVU als Spitzenkandidat im Bürgerschaftswahlkampf an. Dabei bescherte er der DVU ein Ergebnis unter der Einprozenthürde von 0,8 %. Damit unterlag die DVU in einigen Wahlbezirken selbst der Partei »Die Partei«, die von Mitarbeitern des Satiremagazins »Titanic« gegründet worden war.
Bei seiner Rede in Esens trat Faust mit geballtem rechtsextremen »Metapedia-Wissen« und Militärjargon auf, sprach gar von »einem gewaltigen Bombenteppich« der »auf einen Schlag zwei Jahrgänge des Esenser Nachwuchses ausgelöscht hat«. Dabei bedient er sich in weiten Teilen ausgerechnet eines Textes des Nordenhamer Journalisten, Klaus Dede, dessen Familie selbst Opfer des Naziregimes war, geflissentlich nicht genehme Passagen weglassend.
Schließlich bescheinigte er der »sogenannten 68er Generation« ganze Arbeit geleistet zu haben und »Ehre und alle andere Tugenden, die typisch für das deutsche Volk waren« ausgemerzt zu haben. Außerdem würde »seitdem gegen jeden die Nazikeule geschwungen, der aus dem Gleichschritt der neuen Menschlichkeit heraustritt«. Letztendlich versprach er der Esenser Bevölkerung sie jedes Jahr wieder mit einer Kundgebung zu beglücken, bevor er sich von der nicht wirklich anwesenden Esener Bevölkerung höflich verabschiedete.
Nachdem Christian Worch den Mikrofonständer wieder auf die Größe von Hans-Gerd Wiechmann heruntergedreht hatte, setzte dieser zur Hauptrede an. In seiner ersten Erleuchtung zu Beginn seiner 22-minütigen Rede führte Wiechmann aus, dass, wenn die Toten und Ahnen wählen könnten, wer sie ehrt und wer ihre Gräber pflegt solle, wären er und seine Kameraden »die Auserwählten«.
Eigenartigerweise beklagte er, dass »nicht mehr an diesem Platz stehen würden um der Toten zu gedenken«. Eine Frage, die er besser dem eigenen politischen Lager hätte stellen sollen. Bei Betrachtung der neonazistischen Teilnehmer_innen, die der Kundgebung beiwohnen, sind die von Wiechmann geäußerten Beschreibungen »Dekadent, Verkommen und Angetrunken« durchaus in einigen Punkten auf die eigene politische Klientel anwendbar.
Wiechmann warf den Esenern vor, ihre Toten vergessen zu haben. Die Stimmen der toten Kinder würden aus dem Jenseits heraus die Gerechtigkeit einfordern und beklagte Deutschland sei »einzigste Land dieser Erde, welche 8000 Mahnmale zu seiner eigenen Schande errichtet« habe und fragte »wo sind die Mahnmale für unsere Gefallenen?« Außerdem forderte er unter anderem »Mahnmale für die 3 Millionen Frauen, Kinder und Greise, die dem Holocaust der Vertreibung...zum Opfer gefallen« wären. Wiechmann würfelte nach Herzenslust Opferzahlen durcheinander und stilisierte die »Wehrmachtstoten« zu Heroen und geistigen Vorbildern, denen bei Lebzeiten die Sonne ins Gesicht geschienen und die der Wind dann zu den Sternen erhoben habe, von wo aus sie die Zurückgebliebenen begleiten würden. Nun kam Hans Gerd Wiechmann aber erst so richtig in Fahrt.
Die Alliierten Truppen, insbesondere die amerikanischen, bezeichnete er als die wahren Rassisten, und belegte es damit, dass die Deutschen »die gleichen Toiletten benutzen mussten wie die farbigen Soldaten» und bezeichnete gleichzeitig die sowjetische Armee als »besoffene asiatische Horden«. In seinem Exkurs über den zweiten Weltkrieg ließ Wiechmann es sich nicht nehmen, von einem sechsjährigen Heldenhaften Kampf gegen die ganze Welt zu sprechen und bescheinigte dem »deutschen Soldaten, es gab keinen Besseren« und bescheinigte der Jugend des Naziregimes dass sie eingetreten seien »im Kampf einer deutschen Bewegung zu kämpfen für den Fortbestand ihres Volkes und für die ewige Größe eines sozial gerechten...deutschen Vaterlandes«.
Nach gut eineinhalb Stunden Dauer beendete Versammlungsleiter Hans-Gerd Wiechmann die Kundgebung mit der Aufforderung gemeinsam die Nationalhymne zu singen. Leider war dem Großteil der Teilnehmer_innen der komplette dreistrophige Text nicht geläufig und so war auch nur ein unrhythmisches Gemurmel zu vernehmen. Die Neonazis ließen es sich in der Zwischenzeit nicht nehmen die überall am Marktplatz aufgehängten Schilder mit dem Aufdruck »Nazis raus« mit Aufklebern zu versehen auf denen unter anderem der verurteilte Kriegsverbrecher Rudolf Hess verherrlicht wurde. Beim Abmarsch der Neonazis wurden die Schilder als »Quasitrophäe« von den Neonazis ab- und mitgenommen.
Die Personen die mit PKW angereist waren, wurden von der Polizei unter Schutz vom Versammlungsort weggeführt, während die »fußläufigen« Teilnehmer unter Polizeischutz zum Bahnhof Esens zurückbegleitet wurden.
Wäre es nach dem Willen der Stadtoberen der Bärenstadt gegangen, hätten die Neonazis am Markt, ungestört von einer kritischen Öffentlichkeit, ihre Geschichtsumdeutung vornehmen können. Eines wurde erreicht, alle Geschäfte im Umkreis des Marktplatzes hatten geschlossen und nahmen die sonnabendlichen Einbußen in Kauf.
Der ehrenamtliche Bürgermeister und Polizeibeamte Klaus Wilbers und Stadtdirektor Jürgen Buß hatten sich in der vergangenen Woche in mehreren Bürgerversammlungen dafür stark gemacht, eine »stille Demonstration« unter dem Motto »Esens macht dicht« auf dem Kirchplatz abzuhalten. Damit sollte ein »deutliches Zeichen« gegen die Neonazis gesetzt werden. Vorsorglich bat man die Teilnehmer der von Stadtdirektor Jürgen Buß geleiteten Versammlung am Kirchplatz »Zivilcourage zu zeigen, um Vermummung und Gewalt schon im Keim zu ersticken«.
Tatsächlich gab es in Esens zwei Gegendemonstrationen: die der Bürgerversammlung am Kirchplatz außerhalb des Sichtfeldes der Neonazikundgebung und eine zweite direkt am Rande des Kundgebungsplatzes, die weitaus mehr Antifaschist_innen aufwies und die lautstark ihrem Unmut über die perfide Gedenkveranstaltung kundtat. Die Linke zog gar einen Plan zurück eine eigene Kundgebung zu veranstalten. Zu groß schien die Gefahr, dass es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen könnte. Unterschwellig war den Artikeln der örtlichen Zeitungen zu entnehmen, dass die Angst vor Krawallen ziemlich groß sei, was sich auch in den Verlautbarungen der Polizei widerspiegelt die »eindringlich auf ein erhöhtes Gefahrenpotential durch die Teilnahme gewaltbereiter Personen aus allen möglichen Lagern hinwies«. Beide Demonstrationen verliefen allerdings absolut friedlich. Vermummt waren an diesem Tag lediglich die Beamten der BFE-Oldenburg (Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten) der Polizei.