24.11.2008 / Essel: Neue Wallfahrtsstätte von Neonazis in Essel ?

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Wie bereits im Vorjahr führten militante Neonazis, anlässlich des Volkstrauertages am vergangenen Wochenende ein sogenanntes »Heldengedenken« auf dem Gelände der Kriegsgräberstätte in Essel durch. Damit standen die Neonazis der militanten »Nationalen Sozialisten Niedersachsen« nicht alleine. Eine Woche später organisierten nun Mitglieder der »HIAG« eines Traditionsvereins der »Waffen-SS« ebenfalls eine diesbezügliche Veranstaltung auf dem kleinen Waldfriedhof, inmitten der Lüneburger Heide.

Auf dem beschaulichen Waldfriedhof, nahe der Gemeinde Essel ist es im Verlauf des Jahres vor allem eines, nämlich Ruhig. Lediglich das langgezogene Surren vorbeieilender Fahrzeuge, auf der unmittelbar benachbarten Landstraße, durchschneiden das Ambiente. In den letzten Tagen des zweiten Weltkrieges vermischte sich diese Geräuschkulisse mit dem, wie mechanisch wiederkehrenden Gewehrsalven, Befehlskommandos und dem Lärmen von Gefechten. Alliierten Truppenverbände rückten in das Waldgebiet inmitten der Lüneburger Heide vor. Um den nahe gelegenen und für die Strategen der Wehrmacht als militärisch wichtig erachteten »Aller-Brückenkopf« zu halten wurden die noch verbliebenen Reste von verschiedenen deutschen Einheiten zur Abwehr in dem Waldgebiet eingesetzt. Dieses »letzte Aufgebot« bestand unter anderem aus Angehörigen einer Marine-Einheit sowie Panzer-Grenardieren. Mitglieder der »Waffen-SS« gehörten ebenfalls zu diesen Truppenteilen. Auch Mitglieder des »Reichsarbeitsdienstes« (RAD) wurden zu diesem Zweck bewaffnet und in die anschließenden Scharmützel geschickt.

Im April 1945, zu einem Zeitpunkt, als der durch das NS-Regime vom Zaun gebrochene Krieg militärisch bereits längst verloren war, bezahlten noch tausende Menschen, angetrieben von Durchhalteparolen nationalsozialistischer Propaganda die letzten Tage der NS-Diktatur mit ihrem Leben. So auch in Essel. Auf dem 1950 von der Gemeinde errichteten Soldatenfriedhof wurden diejenigen begraben, welche auf Seiten der deutschen Kriegsführung in den Gefechten ihr Leben verloren. Insgesamt 114 Menschen wurden hier verscharrt, viele von Ihnen erreichten nicht einmal das 21. Lebensjahr. Sie wurden erschossen, verbluteten und starben für den Wahnsinn, eines durch das NS-Regime heraufbeschworenen weltweiten Konfliktes.

Die Geschichte eines Wallfahrtsorts für Alt- und Neonazis


Wirklich ruhig blieb es seit diesen blutigen Tagen in der Region bei Essel auch weiterhin nicht. Nach der Errichtung des besagten Waldfriedhofes, entwickelte sich das kleine Areal, inmitten der Lüneburger Heide gelegen, zu einem Wallfahrtsort von Alt- und Neonazis. Vor allem die Mitglieder des SS-Traditionsverbandes »HIAG« (Hilfsorganisation auf Gegenseitigkeit der Soldaten der ehemaligen Waffen SS) zelebrierten auf dem Gelände der Grabstätte ihre, ganz eigene Form des »Heldengedenkens«. Hier, in Essel ging es nicht um ein Bedauern des frühen und gewaltsamen Todes junger Männer. Soldatische Tugenden wurden hier beschworen, »Pflichterfüllung« und »Heldenmut«. Kein Wort der Reue erklang. Bitterkeit hingegen bestand bei den Vertretern der »HIAG« vor allem wegen des verlorenen Krieges, der Niederlage einer außer Kontrolle geratenen Kriegsmaschinerie. Herrschte hier, taumelnd angesichts der heroischen Verklärung im Herzen Sturm, so steckte das Schiff namens Aufarbeitung nationalsozialistischen Wahnsinns im Schlick einer nicht enden wollenden Ebbe fest.

Bis tief in die Mitte der 70er Jahre hinein, fanden diese, aus heutiger Sicht befremdlich, gar gespenstisch anmutenden Veranstaltungen zumeist gemeinsam mit Vertreter_innen der Gemeinde und zahlreichen Vereinen der Umgebung statt. Auch der »Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge« (VDK) engagierte sich in Essel zusammen mit der, zu militärischen Untätigkeit gezwungenen SS-Soldateska und ihrer Angehörigen aus den Reihen der »HIAG«. Und das, ohne geäußertes Bedenken. Erst ein Redebeitrag, des eigens zum Gedenktag aus Schwarmstedt angereisten Pastor Dreier, Mitte der 70er Jahre beendete das gemeinsam begangene »Gedenken« schlagartig. Und dies im wahrsten Sinne des Wortes.

Pastor Dreier gedachte in seiner, für ihn folgenschweren Ansprache, nicht nur den in Essel beerdigten Soldaten. Angesichts dessen, wer dort alles auf dem Waldfriedhof zusammengekommen war, zeugte sein Verhalten in diesem Augenblick von einem politischem Rückrad in dem keine fremde Hand Platz fand. So erwähnte er in seiner Rede ebenfalls die enormen Opfer der NS-Vernichtungsmaschinerie in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern. Auch die zu beklagenden Opferzahlen der damaligen Sowjetunion fanden in der Ansprache ihre Erwähnung. Das war für einige der dort angereisten Alt- und Neonazis zu viel. Denn zuerst verbalen Attacken folgten schnell Handgreiflichkeiten. Mit Faustschlägen trieben die Angreifer Pastor Dreier vor sich her. Geschützt von Mitgliedern des örtlichen Schützenvereins musste der Geistliche das Gelände schließlich überstürzt verlassen und fliehen.

Bis zu diesem Zeitpunkt war das »Heldengedenken«, zumindest in Essel selbst, über jegliche Kritik erhaben. Einige Jahre zuvor veröffentliche eine örtliche Zeitung Leserbriefe, in welchen die politischen Hintergründe der »HIAG« thematisiert und die Beteiligung der Organisation an den Gedenkfeiern rundum in Frage gestellt wurde. Drohungen alteingesessener und »ehrbarer Bürger« gegen den noch jungen Verfasser waren die Folge. Auf den Vater, einem selbstständigem Handwerksmeister aus der Region, wurde in der folgenden Monaten gleichsam Druck ausgeübt. Einige Kunden weigerten sich, in Anbetracht der Taten seines Sohnes, gar weiterhin seine handwerklichen Dienste in Anspruch zu nehmen. Ein gesellschaftlicher »Normalzustand« sollte sich für den Verfasser der Leserbriefe in der Region nie wieder wirklich einstellen.

Die Stimmungslage der sichtlich entrüsteten Bevölkerung fasste ein Redner des örtlichen Kyffhäuserbundes während einer, im darauf folgenden Jahr durchgeführten »Gedenkveranstaltung« im benachbarten Hademstorf mit den folgenden Worten zusammen: »..ein junger Mann hat Schande über uns gebracht!«. Diese »Schande« entzündete sich vor allem an der öffentlich geübten Kritik der unumwunden Einbindung neofaschistischer Organisationen in die Gedenkveranstaltungen in Essel. Auch wenn die Ansichten solcher Prägung heute nur vielfältiges Kopfschütteln hervorrufen - zum damaligen Zeitpunkt handelte es sich jedoch nicht nur um Floskeln an den Stammtischen der Region Essel, sondern eine weitläufig akzeptierte und unterstützte Meinung.

Im Gegensatz zu den Vorgängen um die Leserbriefe erzeugten die Schläge welche einige Jahre später Pastor Dreier trafen, allerdings für Unmut bei den örtlichen Vertreter_innen der Gemeinde. Hatte man zuvor, kindlichem Trotze gleich, jegliche Kritik an der »HIAG« weit von sich gewiesen, suchte sich nun, angesichts der Gewalt ein Bewusstseinswandel Raum und Luft. Der Eklat führte allerdings nicht etwa zu einer Verbannung des SS-Traditionsverbandes »HIAG«, und ideologisch ähnlich gelagerter Organisationen vom Esseler Soldatenfriedhof. Man einigte sich stattdessen darauf, das Gedenken in Zukunft nicht mehr gemeinsam abzuhalten. Getreu dem Motto: »Aus den Augen aus dem Sinn«, entstanden so zwei voneinander abgetrennte Veranstaltungen. Während die Morgenstunden des alljährlichen Volkstrauertages den Vertreter_innen von Gemeinde und Vereinen überlassen wurden, erhielten die Angreifer von Pastor Dreier die Stunden des Nachmittags um sich auf dem Boden des Soldatenfriedhof einzufinden.


Der Krug geht solange zum Brunnen ...


Die nun, abseits der öffentlichen Wahrnehmung stattfindenden »Gedenkveranstaltungen« neofaschistischer Organisationen auf dem Essel'er Soldatenfriedhof erfreuten sich im Verlauf der folgenden Jahre einer wachsenden Beliebtheit. Die Teilnehmerzahl wuchs beständig. Auch »Kameraden« der »HIAG« aus dem europäischen Umland fanden sich nun in Essel ein. Zwischen den, zumeist schwarz-weiß-roten Fahnen der »Trauergemeinde«, wehten nun auch die gelben Fahnen flämischer Alt- und Neonazis. Diese Anwesenheit belgischer »Besucher« war keineswegs dem Zufall geschuldet. Handelte es sich doch um europäische »Waffenbrüder«. Zum Ende des zweiten Weltkrieges kämpften in den Reihen der »Waffen-SS« nahezu 300.000 »europäische Freiwillige«. Darunter auch eine eigenen »Flämische Legion«, deren Mitglieder sich vorwiegend aus belgischen Kollaborateuren zusammensetzen.

Die »Flämische Gesandtschaft« wohnte den Versammlungen auf dem Waldfriedhof unter anderen mit Vertretern der neonazistischen »Ordensgemeinschaft der Ritterkreuzträger« (OdR) bei, welche dort ebenfalls nicht unangenehm aufgefallen sein dürften. Die Verbundenheit der »HIAG« und der »Ordensgemeinschaft« wurde zuletzt im November 2006 während einer »Gedenkveranstaltung« anläßlich des Volkstrauertages auf dem Berliner Garnisonsfriedhof offenbar. Organisiert hatte die Veranstaltung der »Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr« (VdRDBw). Unter den rund 200 versammelten Veranstaltungsteilnehmer_innen befanden sich neben Reservisten und Soldaten der Bundeswehr auch etliche Vertreter_innen neonazistischer Parteien von NPD und der »Deutschen Volksunion« (DVU) sowie des paramilitärisch agierenden »Stahlhelm – Kampfbund für Europa e.V.«.

Die Vertreter der »HIAG« und der »Ordensgemeinschaft« wurden dort, während einer von Reservisten gehaltenen Ansprache, aufgrund ihrer Beteiligung an der Veranstaltung auf dem Garnisionsfriedhof lobend erwähnt. Angesprochen auf die Einbindung dieser beiden ideologisch einschlägigen Organisationen in die Gedenkveranstaltung, erwiderte der verantwortliche Oberstleutnant a.D. lediglich »die Bundeswehr sei schließlich auch von mehreren hundert Waffen-SS-Mitgliedern aufgebaut worden«. Befand man sich im November 2006 anlässlich des Volkstrauertages auf dem Berliner Garnisionsfriedhof in »bester Gesellschaft«, so traf dies in der Vergangenheit ebenfalls auf die Veranstaltungen in Essel zu. Berührungsängste zwischen Reservistenverbänden und der »HIAG« existierten hier zumindest nicht. So nahmen an dem »Heldengedenken« im November 1983 auch mehrere Mitglieder der »Reservistenkameradschaft Militärsport Buchholz/Aller« teil. Dort leisteten sie, bekleidet in die Uniform der Bundeswehr eine militärische »Ehrerbietung« vor den versammelten Alt- und Neonazis.

Mit dem »Bund der Notgemeinschaft ehemaliger Berufsmäßiger Arbeitsdienstangehöriger und ihrer Hinterbliebenen« (B.N.A.), waren in Essel auch ehemalige Vertreter_innen des nationalsozialistischen »Reichsarbeitsdienstes« vertreten. Der »B.N.A.« verfügte seit seiner Gründung im Jahre 1951 über eine der offensten Traditionslinien zum System der NS-Diktatur. Als erster Vorsitzender übernahm Herbert Schmeidler die Leitung der neu gegründeten Organisation. Der ehemalige Freikorpskämpfer Schmeidler bekleidete im nationalsozialistischem Regime das Amt des »Obergeneral-Arbeitsführers« des »Reichsarbeitsdienstes«. Damit stand Schmeidler nicht alleine. Auch sein ehemaliger Vorgesetzter, der »Reichsarbeitsführer« Konstanin Hierl entfaltete nach Ende des Krieges neuerliche Aktivitäten im »B.N.A.« -Organisationsgeflecht.

Die einmal jährlich in Essel stattfindenden Zusammenkünfte konnten sich, aufgrund ihrer relativen Abgeschiedenheit und ihres innewohnenden organisationsübergreifenden Charakters zu einem regelmäßigem Stelldichein neonazistischer Kräfte in Norddeutschland entwickeln. Protest aus de Bevölkerung schienen die »Trauernden« nicht befürchten zu müssen. Als die Vorgänge um Pastor Dreier schon fast der Vergangenheit anheim gefallen waren, ereignete sich dann im Verlauf des 13. November 1983 ein weiterer Zwischenfall. Diesmal allerdings umso folgenschwerer für die Mitglieder der dort aktiven neonazistischen Organisationen.

Aktivisten und Mitglieder des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und der Friedensbewegung wagten sich im Verlauf des Nachmittags auf den Soldatenfriedhof. Inmitten der dort Versammelten erhoben sie ein Transparent mit der Aufschrift »Verbot HIAG – Waffen SS«. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Eine aufgebrachte Meute entriss Ihnen das mitgeführte Banner und zerstörte es umgehend. Wenige Augenblicke später prasselten Faustschläge und Tritte auf die jungen Leute nieder. Die Stimmung war bereits vorher angespannt gewesen. In der Nacht zuvor hatten Unbekannte auf dem Waldfriedhof zwei Grabsteine umgeworfen und hinterließen auf anderen mit Kreide die Parole »Nazis raus«. Das die neuerlichen Angriffe im Nachhinein eine überregionale Aufmerksamkeit erlangten war dem Zufall geschuldet. Ein Kamerateam war ebenfalls auf dem Soldatenfriedhof zugegen und konnte die Attacken dokumentieren.

Bereits im nächsten Jahr wurde ein überregionales Aktionsbündnis gegen die Veranstaltung ausgerufen. Die regionale Verankerung der neonazistischen Organisationen im Zusammenhang mit dem Soldatenfriedhof begann bereits nach den Vorfällen mit Pastor Dreier zu wanken. Aufgrund der Berichterstattung des Jahres 1983 kippte die Stimmung vollends - zumindest in der Öffentlichkeit. In den Jahren 1984/1985 finden dann Demonstrationen gegen das neonazistische Treiben auf dem Essel'er Waldfriedhof statt. Nach den Protesten versuchten die Mitglieder der »HIAG« dem gewachsenen Interesse an ihrer Organisation zu entgehen. Auf öffentlichkeitswirksame »Trauerfeiern« wurde in den folgenden Jahren weitestgehend verzichtet. Zu größeren Zusammenkünften kam es nur noch Anfang der 90er Jahre. Diesmal allerdings nicht von Seiten der »HIAG«, sondern der im Februar 1995 verbotenen »Freiheitlichten Arbeiterpartei Deutschland« (FAP). Die einzigen Lebenszeichen der »HIAG« manifestierten sich in den vergangenen Jahren lediglich in einigen wenigen Kränzen mit schwarzer Trauerschleife, welche an den Gräbern gefunden wurden.


Back to the Boots – Reaktivierung als neonazistischer Anziehungspunkt


Das Fernbleiben neonazistischer Akteure vom Waldfriedhof und dem damit verbundene öffentlichen Missbrauch der dort Beerdigten, für die eigenen ideologisch aufgeladenen Zwecke währte bis zum Jahr 2007. Bereits im Jahr zuvor war ein Kranz mit der, in Schwarz gehaltenen Trauerschleife der »HIAG« auf dem Gelände des Soldatenfriedhofes sichergestellt worden. Im Gegensatz zu den Vorjahren, versehen mit dem offenkundigen Schriftzug des »SS-Traditionsverbandes«. Während des Volkstrauertages im Jahr 2007 versuchten dann, rund zwei Dutzend schwarz gekleidete Neonazis auf das Gelände des Waldfriedhofes in Essel zu gelangen. Polizeikräfte welche sich auf dem Gelände aufhielten, versuchten die Neonazis davon abzuhalten. Dies hinderte die angereiste Gruppe jedoch nicht daran ihren Weg zum Friedhof fortzusetzen. Handgreiflichkeiten waren die Folge.

Auch im Jahr 2008 wurde die Region Essel zum Schauplatz neonazistischer Gepflogenheiten. In den Abendstunden des 16.11.2008, als sich das Licht des Tages langsam verabschiedete, versammelten sich rund 30 militante Neonazis aus den Strukturen norddeutscher Kameradschaftsgruppen vor dem Gelände der Kriegsgräberstätte in Essel. Kurz nach ihrer Ankunft auf dem kleinen Waldweg, der zu dem zurückliegendem Areal führt, setzt der Regen ein. Ein meteorologischer Zustand der sich erst mit Verschwinden der dort angereisten »Trauergemeinde« wieder veränderte. Die Neonazis gehörten zum organisatorischem Dachverband militanter Kräfte in Norddeutschland. Dabei handelt es sich genauer genommen um die »Nationalen Sozialisten Niedersachsen« (NaSo-N).

Bevor die Gruppe den Waldfriedhof betrat, wurde ein Redebeitrag vom langjährigen Aktivisten des Neonazispektrums Dennis Bührig aus Celle verlesen. Bührig gehört zu den Führungspersonen der militanten »Kameradschaft Celle 73«. Das Zahlenkürzel der Kameradschaftsgruppe bezieht sich dabei auf den Namen der »Standarte 73«, einer während des nationalsozialistischem Regimes in Celle aktiven »SA-Einheit«. Die »Kameradschaft Celle 73« gehört zu den derzeit aktivsten Neonazigruppierungen in Norddeutschland und übernimmt eine wichtige Schlüsselposition innerhalb der »Nationalen Sozialisten Niedersachsen«. Mitglieder der Gruppierung waren bereits im Jahr 2007 an den Auseinandersetzungen am Esseler Friedhof beteiligt. Neonazistisches »Heldengedenken« besitzt innerhalb der »Kameradschaft Celle 73« eine gewiachsene Tradition. Im Jahr 2005 und 2006 beteiligten sich Mitglieder der Gruppierung an diesbezüglichen Aufmärschen im brandenburgischen Halbe und im sachsen-anhaltischen Magdeburg. Auch als im November 2006 rund eintausend Neonazis, unterstützt von der neonazistischen NPD im brandenburgischem Seelow, ein »Heldengedenken« abhielten, marschierten Neonazis aus Celle in den ersten Reihen.

Nachdem der, als NPD-Kandidat der vorangegangenen niedersächsischen Landtagswahl im Januar 2008 aufgestellte Bührig die anwesenden Neonazis in seiner Ansprache begrüßte, kam der bekennende Neofaschist zum eigentlichen Kern seines Anliegens. Die »Kämpfe der SS-Männer«, welche »in tapferer Ehre und Treue gegenüber Deutschland« in den Wirren des 2. Weltkrieges ihr Leben verloren bestimmten den weiteren Verlauf seiner Ansprache. Erst zum Ende seines Redebeitrages gelangte der 1981 geborene Bührig wieder in die Gegenwart. Die »Kämpfe der SS-Männer« zeigten seiner Meinung nach auch die derzeitig »dringende Notwendigkeit« einer heutigen »kämpferischen und starken nationalen Jugend« auf. »Ihr Opfer, unser Auftrag«, so Dennis Bührig weiter. Die Frage der Traditionslinie, in welcher sich heutige Neonazis wähnen, wurde mit den Worten von Dennis Bührig hinlänglich beantwortet.

Nach den Auseinandersetzungen des Vorjahres erteilte, die auf dem Friedhof anwesende Polizeiführung, den angereisten Neonazis die Auflage nur in kleinen Gruppen die Grabstätte zu betreten. Angesichts, der mit Polizeihunden ausgerückten Einsatzkräfte der Polizei wurde den Auflagen widerstrebend Folge geleistet. Nachdem Mitglieder der »Kameradschaft Celle 73« einen Kranz mit der Aufschrift »Den gefallenen Helden beider Weltkriege – Kameradschaft Celle 73« vor dem massiven Gedenkstein des Friedhofes niedergelegt hatten, folgten ihnen Mitglieder der Kameradschaft »Snevern-Jungs« aus dem niedersächsischem Schneverdingen.

Angeführt von Matthias Behrens, ebenso wie bereits Dennis Bührig NPD-Kandidat der im Jahr 2008 stattgefundenen niedersächsischen Landtagswahl hinterlegten diese einen Kranz mit dem Spruchband »In stolzer Trauer – Snevern-Jungs«. Auch der als Versicherungskaufmann tätige Matthias Behrens, ehemalige Kader der 1992 vom Bundesministerium des Inneren aufgrund ihrer extremen »Wesensverwandschaft zum Nationalsozialismus« verbotenen »Nationalistischen Front« (NF) ist mit dem ideologisch eingefärbtem »Heldengedenken« vertraut. Während des, im Jahr 2006 im brandenburgischem Seelow durchgeführten Aufmarsches von Neonazis war Behrens ebenfalls zugegen. Dort trug er einen Trauerkranz des sogenannten »Stammtisch Nord«, einem Verbund norddeutscher Neonazis aus Hamburg, dem westlichen Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt.

Im niedersächsischem Essel wurde Behrens von ehemaligen Mitgliedern der »Freien Kräfte Munster« (FKM) begleitet. Nach internen Streitigkeiten, infolge der für die NPD als unzumutbares Wahldebakel gewerteten Landtagswahl 2008 zog sich der bisherige Führungskader der »Freien Kräfte Munster« Roman Greifenstein aus der Öffentlichkeit zurück. Zuvor vereinbarte Geldzahlungen des NPD Landesverbandes an die unterstützenden Neonazis der »Freien Kräfte« blieben aufgrund klammer Kassen aus. Auch dieses »gebrochene Wahlversprechen« der NPD Niedersachsen gegenüber den eigenen Wahlkampfhelfern trug zur vorläufigen Auflösung der »Freien Kräfte Munster« bei. Die verbleibenden Mitglieder der Kameradschaftsgruppe blieben allerdings nur kurzzeitig ohne festen Gruppenzusammenhang und engagieren sich nun im Kreis der »Snevern-Jungs«.

Einen mit entsprechenden Spruchband versehenen Trauerkranz hinterlegten auch die angereisten Mitglieder der neonazistischen Frauengruppe »Düütsche Deerns«. Bei den »Düütschen Deerns« handelt es sich um eine Gruppierung weiblicher Neonazis mit besten Verbindungen zur neonazistischen »Gemeinschaft Deutscher Frauen« (GDF). Bis Anfang 2008 traten Mitglieder der sogenannten »Düütschen Deerns« bei Aufmärschen mit Transparenten der GDF in Erscheinung und sollen sich im Juni 2008 ebenfalls an der Ausrichtung des »GDF-Sommertreffens« in der Lüneburger Heide beteiligt haben. Im weißem Trikot der »GDF-Nord« wirkten die heutigen Aktivistinnen der »Düütschen Deerns« in der Vergangenheit auch auf internen Fußballturnieren der Neonaziszene mit.

Im Jahr 2008 entfalteten Mitglieder der »Düütschen Deerns«, neben einer regen Beteiligung an Aufmärschen im norddeutschen Raum vor allem Aktivitäten auf dem Anwesen des NPD Aktivisten Joachim Nahtz im niedersächsischen Eschede. Auf völkisch-neonazistischen Veranstaltungen, wie einem im September 2008 durchgeführten »Erntedankfest« traten die »Düütschen Deerns« als Mitorganisatoren in Erscheinung. Auch während eines »Sommerfestes« mit über hundert Teilnehmer_innen auf dem Anwesen des Landwirtes Nahtz, mit anschließender Sonnwendfeier waren die »Düütschen Deerns« organisatorisch eingebunden.

Ebenfalls vor Ort waren weiterhin Neonazis aus der Region Giffhorn und Wolfenbüttel. Unter den angereisten Neonazis befanden sich dabei etliche NPD-Kandidaten der vorangegangenen Landtagswahl. Dazu zählen auch Andreas Wolf von der NPD-Braunschweig sowie Klaus Hellmund, ein weiterer Führungsaktivist der »Kameradschaft Celle 73«. Hellmund sorgte zuletzt im Juni 2008, während des »Sommerfestes« von Neonazis im niedersächsischem Eschede für Negativschlagzeilen. Als Mitglied einer eigens eingesetzten Ordnergruppe griff der, als gewalttätig einschlägig bekannte und vorbestrafte Neonazi gezielt einen anwesenden Journalisten an. Auch Mitglieder der Tarnorganisation »Bürgerinitiative für Zivilcourage Hildesheim« sowie einer Gruppe von Neonazis aus Rotenburg Wümme waren in Essel zugegen - darunter auch ein Mitglied des unlängst aufgelöstem »Rotenburger Widerstandes«. Gründe für die Auflösung waren, neben einem Rückgang der aktiven Mitglieder vor allem das szeneintern als »unkameradschaftlich« gebrandmarkte Verhalten einzelner Mitglieder wie beispielsweise Diebstahl und Betrugsversuche.

Die von anwesenden Beobachter_innen als »gespenstisches Treiben« beschriebene Veranstaltung endete ebenso wie sie begann. Nachdem sich die angereisten wieder an der Landstraße 190 vor dem kleinen Waldfriedhof zwischen Hademstorf und Allerbrücke versammelten, wurde das, im Dritten Reich als »Treuelied der SS« bekannt gewordene Stück »Wenn alle untreu werden« angestimmt sowie Gedichte vorgetragen. Nach Abschluss dieses »kulturellen Teils« der Veranstaltung begannen die Anwesenden zum »real existierendem Neofaschismus« zurückzukehren und Geld unter den Angereisten zu sammeln. Dennis Bührig löste die Versammlung anschließend mit der Ankündigung auf, juristisch gegen die Auflagen der Polizei, vorgehen zu wollen. Im nächsten Jahr beabsichtige man das »Heldengedenken« direkt auf dem Gelände des Friedhofs abzuhalten.


Totgesagte leben länger - Auch die HIAG kehrt zurück


Am diesjährigen Totensonntag, eine Woche nach der Zusammenkunft militanter Neonazis, versammelten sich nun abermals Mitglieder der »HIAG« auf dem Areal der Kriegsgräberstätte in Essel. Begrüßt wurden sie dabei von drei, augenscheinlich als Verbindungsstudenten auftretenden Personen, welche die Anreisenden anschließend auf den Friedhof geleiteten. Rund 50 Personen, vorwiegend aus Soltau-Fallingbostel, Celle und Hannover »gedachten« nach Eigenangaben den »Gefallenen verschiedener Waffengattungen«. Besonders hervorgehoben wurden dabei die in Essel beerdigten Mitglieder des »Reichsarbeitsdienst und der Waffen-SS«, welche »getreu ihrem Fahneneid fürs Vaterland« gefallen seien. Wie bereits in der Vergangenheit fanden die Verbrechen und Gräueltaten nationalsozialistischer Willkür in den Ansprachen der »HIAG« keine Erwähnung. Stattdessen widmeten sich die Ausführungen den »Männern, Frauen und Kindern«, welche bei Bombenangriffen alliierter Verbände den Tod fanden. Im Gegensatz zu der eine Woche zuvor stattgefundenen »Trauerfeier« von militanten Neonazis konnte die »HIAG« das Gelände ungehindert betreten. Man berief sich auf ein ominöses und nicht näher beschriebenes Hausrecht welches die Organisation besitzen würde.

Die angereiste Alt- und Neonazis, unter ihnen nach Angaben von Beobachter_innen auch ehemalige Mitglieder der »Waffen-SS – Erlebnisgeneration« legten im Rahmen der »Gedenkfeier« einen Kranz der »HIAG – Hannover« vor dem Gedenkstein der Kriegsgräberstätte nieder. Der offizielle Teil der Veranstaltung fand sein Ende durch das Ertönen des militärischen »Zapfenstreich«. Zuvor hatte man bereits, während der Niederlegung des Kranzes, dass Lied »Gute Kameraden« auf einer mitgeführten Trompete erklingen lassen. Für die Ausrichtung der Zusammenkunft wurde in einem abschließendem Redebeitrag »den jungen Leuten aus Hodenhagen« gedankt, welche ebenfalls bei der Veranstaltung zugegen waren. Als Grund für die geringe Dauer der »Gedenkveranstaltung« wurde angeführt, von anwesenden Beobachter_innen nicht »behelligt« werden zu wollen. Gleichgesinnte hätten allerdings die Möglichkeit einem anschließend stattfindendem »Kaffeetrinken in Schwarmstedt« beizuwohnen.

Die jüngst auf dem Waldfriedhof in Essel stattgefundenen Zusammenkünfte von Alt- und Neonazis zeugen von einem neuem Selbstbewusstsein der dort involvierten Personenkreise. Während die Mitglieder des Zusammenschlusses »Nationalen Sozialisten Niedersachsen«, nach dem Wegfall der jährlich stattfindenden Aufmärsche im brandenburgischem Halbe, in Essel eine neuerliche Wirkungsstätte öffentlichkeitswirksamer Propaganda frequentieren und diese, wie bereits angekündigt, auszubauen gedenken, repräsentiert die »Rückkehr der HIAG« vor allem die in den letzten Jahren reorganisierten Strukturen von »Altnazis«. In den vorangegangenen Jahren wurden nur wenig über die Aktivitäten dieser Strukturen bekannt. Öffentlichkeit wurde weitestgehend und wo möglich vermieden. Nach außen traten die Strukturen bislang vor allem durch die Publikation »Der Freiwillige – Monatszeitschrift der Waffen-SS« und eine geringe Anzahl, bekannt gewordener Zusammenkünfte.

Durch die zunehmende »Wiederentdeckung« der kleinen Kriegsgräberstäte in Essel durch organisierte Alt- und Neonazis scheint die Rückkehr eines neonazistischen »Wallfahrtsorts« im Herzen Niedersachsens vorprogrammiert. Die Region um Essel, welche sich im Aktionsradius mehrerer führender und militanter Neonazigruppierungen aus Niedersachsen befindet, läuft Gefahr das Ziel neuerlicher Geschichtsklitterung zu werden. In welche ideologische Richtung sich diese Aktivitäten bewegen werden, haben die dort beteiligten Gruppierungen mit ihrem offen zur Schau getragenem Bezug zur »Waffen-SS« bereits vorgezeichnet. Ob erst Ereignisse nach dem Vorbild der Geschehnisse um Pastor Dreier auf dem Waldfriedhof eintreten müssen, bleibt hingegen abzuwarten. Die derzeitige Mitgliederzahl des örtlichen Schützenvereins dürfte allerdings nicht ausreichen um eine neuerliche »Pilgerstätte« von Neonazis in Niedersachsen abzuschirmen.