01.05.2009/ Aus den Augen - aus dem Sinn?

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01.05.2009 / Hannover: Nachdem sich das Bundesverfassungsgericht (BVG) am Nachmittag des 30. Aprils 2009 einer Entscheidung über den umgehend eingereichten Eilantrag gegen das Verbot des in Hannover geplanten Neonazi-Aufmarsches verweigerte, kam es in zahlreichen Städten Norddeutschlands und in Dortmund zu »Spontanaufmärschen« militanter Neonazis. Gewaltsame Übergriffe, bei denen Mitglieder des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) sowie Beamte der Bereitschaftspolizei verletzt wurden, konnten nicht verhindert werden.

Keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung. Nach dieser Devise scheinen die Richter_innen des BVG in Karlsruhe im Vorfeld des geplanten Neonaziaufmarsches in Hannover verfahren zu sein. Mit dem Verweis auf einen zu kurzen Entscheidungszeitraum, wiesen sie die am Dienstag per Eilverfahren eingereichte Klage der Neonazis zurück. Diese hatten gegen eine Verbotsverfügung des Aufmarsches am 1. Mai 2009 durch die Polizei in allen verantwortlichen Instanzen geklagt und waren damit wiederholt gescheitert. Zentrales Argument der polizeilichen Verbotsbegründung war eine potentielle Gefährdung der »öffentlichen Sicherheit«. Dies wurde zum einen durch die zu erwartende Teilnahme sogenannter »Autonomer Nationalisten« (AN) an der Neonazidemonstration, zum anderen durch die zahlreichen angemeldeten antifaschistischen Proteste begründet. Nach Angriffen von Neonazis auf Journalist_innen und Demonstrant_innen am 1. Mai 2008 in Hamburg-Barmbeck, die ihren Ausgang in einer später selbst eingeräumten Fehleinschätzung der Polizeiführung im Hinblick auf das Gefahrenpotential des neofaschistischen Aufmarsches nahm, versuchte die Polizeidirektion Hannover in diesem Jahr eine mögliche Gefährdung von vornherein als Verbotsbegründung heran zu ziehen.

Noch am Vorabend des 1. Mai 2009 hatte der Hannoveraner Polizeipräsident Uwe Binias seine Freude und Zustimmung über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVG) verlauten lassen: »Das ist eine gute Entscheidung für Hannover«, so der Polizeipräsident. Doch das Gefahrenpotential der Neofaschist_innen konnte nicht durch ein Verbot wirksam eingeschränkt werden. Dies zeigte sich im Verlauf des 1. Mai dann auch mehr als deutlich. Schon wenige Stunden nach Bekanntgabe des endgültigen Verbotes hatten nordrhein-westfälische Neonazis den Treffpunkt ihrer Mobilisierung in das weiter südlich gelegene Siegen verlegt. In Niedersachsen und Schleswig-Holstein organisierten Mitglieder der sogenannten »Freien Nationalisten« zu kurzfristig organisierten Spontandemonstrationen.

Am Morgen des 1. Mai griffen rund 300 sogenannte »Autonome Nationalisten« eine DGB-Demonstration in Dortmund an. Mit Steinen, Flaschen und anderen Wurfgeschossen wurden mehrere Personen verletzt, davon mindestens eine schwer. Die anwesenden Polizeieinheiten hatten die Gruppe außer Acht gelassen, nachdem diese den Einsatzkräften erklärt hatte, sie seien auf dem Weg zur Ersatzveranstaltung in Siegen. Der anwesende Einsatzleiter reagierte auf Kritik an dem Vorgehen der Einsatzkräfte mit den Worten »Der Angriff kam völlig überraschend«. Auch mehrere Polizist_innen wurden bei dem Überfall verletzt. Fast alle Mitglieder der angreifenden Neonazis wurden im späteren Tagesverlauf in polizeilichen Gewahrsam genommen.

Auch in Norddeutschland versammelten sich in den Mittagsstunden knapp 100 Neofaschist_innen auf einem Parkplatz in der Nähe des niedersächsischen Walle bei Verden, um von dort aus ins nahe gelegene Rotenburg/Wümme aufzubrechen. Nach einer zehn minütigen Demonstration durch die örtliche Fußgängerzone kam es zu Konfrontationen. Ein Polizist wurde von der Gruppe angegriffen und leicht verletzt. An der Demonstration in Rotenburg/Wümme nahm unter anderem Christian Sternberg aus Lüneburg teil. Sternberg war Anmelder eines Neonaziaufmarsches am 11.04.2009 in Lüneburg, in dessen Verlauf sich Neonazis ebenfalls mit Polizeibeamten zum Teil heftige Auseinandersetzungen lieferten. Auch ehemalige Mitglieder der »Freien Nationalisten Bremen«, wie Simon Lahusen waren in der niedersächsischen Kreisstadt zugegen. Weitere Neonazis, wie beispielsweise der langjährige Neonazikader Matthias Behrens, kamen aus den Strukturen der neonazistischen Kameradschaftsgruppe »Snevern Jungs« aus Schneverdingen. Behrens selbst gehörte im Vorfeld zu den Initiatoren des geplanten Neonaziaufmarsches in Hannover. Auch aus Celle, Hildesheim und Hannover rekrutierten sich die Teilnehmer_innen des »spontanen« Aufmarsches. Als örtliche Koordinatoren fungierten wiederum Neonazis aus Rotenburg/Wümme.

Die Polizei nahm bei er Abreise insgesamt 14 Neonazis aus Aschersleben zeitweilig in Gewahrsam. Die restlichen Teilnehmer_innen setzten ihren Weg in die nahe gelegene Kleinstadt Scheeßel fort, wo sie allerdings, abgeschreckt von dem schon eingetroffenen Polizeiaufgebot, keine weitere Demonstration mehr durchführten. Teile der Neonazigruppe fuhren anschließend weiter in das wenige Kilometer entfernte Tostedt, wo Antifaschist_innen zeitgleich gegen den »Szeneladen Streetwear Tostedt« von Stefan Silar in der angrenzenden Ortschaft Todtglüsing demonstrierten. In dem, nach Eigenbekunden »größten Szeneladen Norddeutschlands« werden Bekleidungsartikel und Musik mit neonazistischem Bezug verkauft. Die anreisenden Neonazis, darunter der bereits erwähnte Matthias Behrens, Oliver Adam aus Rotenburg/Wümme sowie Stefan Silar selbst, versuchten die Antifaschist_innen in der Folge gewaltsam anzugreifen. Anwesende Polizeikräfte setzten daraufhin Pfefferspray und Schlagstöcke gegen die Neonazis ein.

Bei Betrachtung der Ereignisse scheint das endgültige Verbot des in Hannover geplanten Aufmarsches durch das BVG offenbar auch für die niedersächsische Naziszene überraschend gekommen zu sein. Dies zeigt auch das Fehlen von angemeldeten Ausweichdemonstrationen sowie eine hektische und unkoordinierte Anreise der Neonazigruppe nach Rotenburg/Wümme. Zur Koordination der Spontanaufmärschen in Niedersachsen diente eine Handynummer, welche die Organisatoren des 1. Mai-Aufmarsches zuvor eilig auf der neofaschistischen Mobilisierungsseite veröffentlicht hatten.

Auch in anderen Bundesländern kam es in diesem Zusammenhang zu spontanen und kurzweiligen Zusammentreffen von Neonazis. So hatten sich schon am Morgen des 1. Mai im schleswig-holsteinischen Neumünster etwa 50 Mitglieder der rechtsradikalen Szene vor dem dortigen Szenetreffpunkt »Club 88« versammelt. Zusammen mit weiteren 100 Neonazis marschierten diese im weiteren Verlauf des Tages durch das schleswig-holsteinische Itzehoe. Die Polizei setzte alle Teilnehmer_innen des Aufmarsches vorübergehend fest. Im weiteren Tagesverlauf versuchte die Gruppe, auch unter Beteiligung von Neonazis aus Dänemark, noch einmal in Pinneberg bei Hamburg in Erscheinung zu treten. Auch hier wurde die Teilnehmer_innen frühzeitig von der Polizei festgesetzt. Eine weitere Gruppe von etwa 30 Neonazis, unter ihnen das NPD Bundesvorstandsmitglied Thorsten Heise aus dem thüringischen Freterode, versuchte am späten Nachmittag im südlich von Hannover gelegenen Friedland eine Spontandemonstration durchzuführen. Auch sie wurden nach wenigen Metern von der Polizei gestoppt. Währenddessen versammelten sich in Friedland Gegendemonstrant_innen um gegen den Aufmarsch der Neonazis zu protestieren.

Die ausbleibende Entscheidung durch das BVG zeigt über die Ausweichaktionen der Neonazis hinaus durchaus kritische Aspekte auf. In der Bestätigung der Verbotsverfügung durch das Oberverwaltungsgericht Lüneburg vom 27.04.2009 wird als Begründung des Verbots die »nicht eindeutige Distanzierung von Gewalt« der beiden Anmelder Dennis Bührig und Marc Oliver Matuszewski angeführt. Weiter wird darauf verwiesen, dass die Polizei Zweifel habe, die Lage unter Kontrolle bringen zu können. So zutreffend die Einschätzung im Bezug auf das Verhältnis zur Gewalt auch sein mag, so besorgniserregend erscheinen nun zukünftigen gerichtlichen Entscheidungen, von denen in Zukunft nicht nur Neonazis betroffen sein dürften.

In Zeiten sich verschärfender sozialer Gegensätze, in denen gesellschaftlichen Interessenkonflikte offensichtlicher werden, erscheint die verkündete Devise »Demonstrationfreiheit nur, solange sie unter staatliche Kontrolle zu bringen ist« mit großer Vorsicht zu genießen. Hannovers Polizeipräsident Binias Worte im Rahmen einer Pressemitteilung der Polizei, dass die Entscheidung des Demonstrationsverbotes auch »über diesen Tag und über Hannover hinaus« als Vorbild dienen könne, erscheint bei genauerer Betrachtung als unheilvolle Drohung. Doch im Fall der BVG-Entscheidung ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Das Gericht habe zwar das Eilverfahren, allerdings nicht die Klage zurückgewiesen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes wird die Zukunft der Demonstrationsfreiheit betreffen und ist alleine aus diesem Grunde von nicht zu unterschätzender Bedeutung.