27.03.2010 / Schleswig-Holstein - Eine Region mit Modellcharakter?

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Am Samstag, dem 27. März 2010, versuchten rund 170 Anhänger_innen der Neonaziszene einen „Trauermarsch“ im schleswig-holsteinischen Lübeck durchzuführen. Doch der vollmundig angekündigte „Marsch auf Lübeck“ geriet nach nur wenigen hundert Metern ins Stocken. Auf Grund zahlreicher Blockadeaktionen verwehrte die polizeiliche Einsatzleitung dem Demonstrationszug letztlich das Weiterkommen. Bereits die Vorbereitungsphase des jährlich stattfindenden Aufmarsches war geprägt durch interne Konflikte, welche sich auch in der geringe Teilnehmer_innenzahl widerspiegelten.

Die Demonstration im Herzen der Hansestadt dürfte für die norddeutsche Neonaziszene eine herbe organisatorische Niederlage bedeuten. Trotz bundesweiter Mobilisierung konnten die Veranstalter_innen letztlich nur einen Bruchteil der eigenen Anhängerschaft zur Teilnahme bewegen. Die Anwesenheit von lediglich rund 170 Teilnehmer_innen markiert einen vorläufigen Tiefpunkt neonazistischer Mobilisierungsfähigkeit, wo sich der Aufmarsch doch noch in den vergangenen Jahren zu einem der bedeutendsten „Neonazi-Events“ Schleswig-Holsteins entwickelt hatte. Mit der als „Trauermarsch“ deklarierten Demonstration versuchen norddeutsche Neonazis seit Jahren die Bombardierung Lübecks im Verlauf des 2. Weltkrieg historisch umzudeuten. Das dahinter stehende Ziel: Das nationalsozialistische Deutschland soll in eine Opferrolle, die „Anti-Hitler-Koalition“ im Gegenzug als Aggressor verklärt werden.

Die mangelnde Mobilisierungsfähigkeit scheint dabei vor allem internen Grabenkämpfen innerhalb der norddeutschen Neonazivernetzung geschuldet zu sein. Konflikten, welche in der Vergangenheit eine beständige Begleitmusik bildeten, die Mobilisierung anlässlich öffentlicher Demonstrationen allerdings kaum beeinflussten. Die beteiligten Konfliktparteien dabei sind vor allem Aktivist_innen des sogenannten „Aktionsbüro Norddeutschland“, die langjährigen Neonazikader Christian Worch und Thomas Wulff sowie Anhänger_innen der NPD Schleswig-Holstein. Heftige Strategiedebatten und Machtkämpfe bestimmten in den vergangenen Jahren deren Verhältnis.

So liefern sich Funktionäre wie der Hamburger Christian Worch bereits seit Jahren inhaltliche Auseinandersetzungen mit Mitgliedern des „Aktionsbüro Norddeutschland“. Diese entzündeten sich vor allem am Führungsanspruch Worchs und einem von ihm favorisierten hierarchisch aufgebauten Organisationskonzeptes. Im Gegensatz dazu forderten Anhänger_innen des „Aktionsbüros Nord“ einen verstärkten Netzwerkcharakter als Organisationsbasis. Das von ihnen angestrebte „Zellenprinzip“ basierte auf der Schaffung und anschließenden Stärkung dezentral agierender Gruppenstrukturen und Führungspersonen.

Die internen Machtkämpf führten in der Vergangenheit sogar zu gegenseitigen Boykottaufrufen. Das "Aktionsbüro" und dort organisierte Neonazigruppierungen torpedieren regelmäßig von Christian Worch organisierte Aufmärsche in Norddeutschland und so folgten den entsprechenden Demonstrationsaufrufen oftmals nur eine Handvoll Neonazis. Zur Durchsetzung der politischen Interessenslagen greifen beide Konfliktparteien dennoch auf ein und dieselbe Anhängerschaft zurück. Auch eine direkte Zusammenarbeit wird nicht gänzlich abgelehnt. So unterstützte der gelernte Notargehilfe Christian Worch mit der „gerichtliche Durchsetzung“ von Demonstrationen die Aktivitäten der norddeutschen Neonaziszene – nicht zuletzt um weiterhin seinen selbst formulierten Führungsanspruch zu behaupten.

Ähnlich spannungsgeladen ist das Verhältnis von Christian Worch zu Thomas Wulff - einer weiteren Führungsperson der norddeutschen Neonaziszene. Wulff, der sich im Bezug auf einen ehemaligen Obergruppenführer der Waffen-SS den Ruf- und Spitznamen „Steiner“ zulegte, tendierte dabei zur Position des „Aktionsbüros“. Spätestens mit der Propagierung einer verstärkten Anbindung parteiunabhängiger Neonazis an die Strukturen der NPD zerbrach das Verhältnis zwischen Worch und Wullf vollends. Christian Worch, der sich mehrfach gegen ein solches Bündnis aussprach, sah sich sich in dieser Frage zusehends isoliert. Nachdem der Hamburger Neonazifunktionär Jürgen Rieger im Jahr 2007 die Geschäfte des NPD-Landesverband Hamburg übernahm, verstärkte sich diese Entwicklung noch. Während sich das „Aktionsbüro Nord“ und Thomas Wulff in der Hansestadt Hamburg auf Rieger und die NPD stützten, unterstützte Christian Worch im Gegenzug die Aktivitäten der „Deutschen Volksunion“ (DVU). Im vergangenen Jahr sah sich Worch schließlich genötigt, mangels politischer Unterstützung, seinen Wohnsitz nach Mecklenburg-Vorpommern zu verlegen und seinerseits den Aktivitäten des "Aktionsbüros" seine Unterstützung zu versagen. Ein Bruch, dessen Spätwirkungen nun auch in Lübeck spürbar war - gehörte Christian Worch doch zu den langjährigsten Unterstützern der Veranstaltung.


Kreuz- und querlaufende Konfliktlinien im internen Machtkampf


Doch auch zwischen Wulff und Mitgliedern des "Aktionsbüros" gährte es. Thomas Wulff, welcher am vergangenen Samstag in Lübeck als Veranstaltungsleiter in Erscheinung trat, gilt dabei als glühender Verfechter einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen NPD und parteifreien Neonazis - er selbst trat der NPD im September 2004 bei. Diese Kooperationsbemühungen stießen nicht nur auf Gegenliebe. Militante Vertreter_innen lehnten ein Bündnis zwischen NPD und "Freien Nationalisten" mit dem Verweis auf den „demokratischen Charakter“ der Parteiorganisation kategorisch ab. Kritik erntete Wulff, ähnlich wie zuvor Christian Worch, für sein Vorgehen sich als "Verhandlungsführer" parteiunabhängiger Neonazis zu präsentieren. Ein Führungsanspruch der ihm unter anderem durch das "Aktionsbüro Norddeutschland" wiederholt abgesprochen wurde.

Im Frühjahr 2009 wurden diese Konflikte erneut angeheizt. Hintergrund waren Bemühungen des Hamburger Rechtsanwaltes Jürgen Riegers eine Radikalisierung der NPD-Bundespartei voranzutreiben. In seiner Funktion als Landesvorsitzender der NPD Hamburg plante Rieger ein Gegengewicht zum „sächsischen Weg“ der NPD aufzubauen: Sowohl in Sachsen wie auch in Mecklenburg-Vorpommern sitzen NPD-Abgeordnete in Fraktionsstärke in den Landesparlamenten. Deren Aktivitäten führten zu heftigen Diskussionen inner- und außerhalb der NPD: Der radikale Flügel sah im parlamentarischen Weg lediglich die Ränkespiele von "NPD-Parteibonzen" verwirklicht, die sich weit mehr dem "Machterhalt" als einem anvisierten politischen Umsturz widmeten.

Doch die Radikalisierung unter der Führung Jürgen Riegers scheiterte. Während einer Sitzung des NPD-Parteivorstandes am 24. Oktober 2009 erlitt der Hamburger NPD-Vorsitzende einen Schlaganfall und verstarb wenig später an dessen Folgen. Kurz zuvor hatten seine Unterstützer_innen noch versucht die Machtbasis militanter Kräfte innerhalb der NPD Landesverbände auszubauen um so einen verstärkten Einfluss auf den NPD-Bundesvorstand geltend zu machen. In diesem Zusammenhang stehen auch Aktivitäten von Thomas Wulff in Schleswig-Holstein. So wurde im Februar 2009 bekannt das sich Wulff um einen Posten im Vorstand des nördlichsten NPD-Landesverbandes bemühte. Dieses Engagement führte schließlich zu Spannungen mit dem NPD-Aktivisten Jörn Lemke - mit weitreichenden Folgen. Lemke wird dem Führungsstab des „Aktionsbüros Norddeutschland“ zugerechnet, welches spätestens zu diesem Zeitpunkt auf Konfrontationskurs zu Thomas Wulff und der NPD Schleswig-Holstein ging. Während das „Aktionsbüro“ in den vorangegangenen Jahren noch zu den eifrigsten Unterstützern des Lübecker Aufmarsches zählte, verzichteten deren Aktivisten in diesem Jahr auf jegliche Zusammenarbeit.


Der „Marsch auf Lübeck“ endet nach 400 Metern


Doch nicht nur angesichts interner Konflikte und mangelnder Mobilisierungsfähigkeit entwickelte sich der Aufmarsch am vergangenen Samstag zu einem sichtlichen Misserfolg. Ein Großaufgebotes von rund 2000 Polizisten verhinderte nicht, dass mehr als 1000 antifaschistischen Gegendemonstrant_innen die geplanten Marschroute erfolgreich blockieren. Die Polizei räumten zwar noch vor dem Auftakt des Aufmarsches eine friedliche Sitzblockade und nahmen mehrere Gegendemonstrat_innen vorläufig in Gewahrsam, die Sicherheitslage rund um die Aufmarschstrecke blieb aber dennoch kritisch. Bereits nach wenigen hundert Metern, knapp eine Stunde nach Beginn musste die Neonazis ihre Versammlung schließlich auf Weisung der Polizei auflösen.

Neben Anhänger_innen der Neonaziszene Schleswig-Holsteins nahmen Teilnehmer_innen aus Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Bremen an der Veranstaltung teil. Aus Mecklenburg-Vorpommern erschien dabei eine Delegation der neu gegründeten „JN Mecklenburg und Pommern“ sowie der neonazistischen Splittergruppe „Widerstand Wittenburg Waschow“. Auch Mitglieder der Hamburger NPD sowie deren Jugendorganisation beteiligten sich an der Demonstration. Angeführt von Lars Bergeest, einem Führungskader von „Blood & Honour Danemark“ reiste auch eine Gruppe dänischer Neonazis nach Lübeck. Auch die Unterstützung von Neonazis aus Strukturen der sogenannten „Autonomen Nationalisten“, allen voran Mitglieder der „Aktionsgruppe Kiel“ änderten letztlich nichts an der geringen Beteiligung.